Nepals Honigjäger: Auf der Jagd nach wildem Honig

10. Juli 2020

Während unserer Leserreise besuchten wir auch Nepals Honigjäger. Dutzende Meter steigen sie die Klippen herab, um an die Waben der Kliffhonigbienen zu gelangen, und riskieren bei der Jagd ihr Leben.

Tausende Bienen schwirren über den Köpfen der Honigjäger. Wie eine große, weiße Zunge hängt die Wabe, die eben noch von den vielen kleinen Körpern bedeckt war, von der Felswand hinunter. Der Qualm des brennenden Bündels hat die Tiere von den Waben gedrängt. Auf ihrer Flucht fliegen manche sogar bis über den Fluss, der am Grund der riesigen Felswand rauscht. In ihrer Panik entleeren sie ihren Darm. Kleine gelbe Tropfen fallen vom Himmel herab. Die Luft füllt sich mit einem säuerlichen Geruch. Man kann die Angst der Bienen förmlich riechen.
Khadka Bahadur Mangar greift nach einer der langen Bambusstangen und bringt sie in Position, um die Wabe von der Felswand zu stoßen. Doch plötzlich hält er inne und zieht sich seinen Hut samt Schleier vom Kopf. Ein schlechtes Zeichen: In dieser Wabe gibt es keinen Honig.

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Auf der Jagd nach dem Honig der größten Honigbiene der Welt

Es ist Ende Oktober. Jedes Jahr kommen die Kliffhonigbienen zu dieser Zeit in das Gebiet rund um Landruk, ein kleines Dorf südlich des Annapurnamassivs auf der Ostseite des Flusstals des Modi Khola. Hier lebt der Volksstamm der Gurung, dessen Mitglieder schon seit Hunderten von Jahren als Honigjäger die steilen Felsklippen heruntersteigen, um an die Waben von Apis laboriosa – der größten Honigbiene der Welt – zu gelangen.

Einer von ihnen ist Anand Paudel. Seit 55 Jahren riskiert er sein Leben für das süße Gold der Kliffhonigbiene. Schon sein Vater sei Honigjäger gewesen, erzählt er. Als Kinder hätten er und sein Kollege Khadka Bahadur Mangar ihren Eltern bei der Jagd assistiert: die Leiter gehalten, die Körbe für die Ernte an Seilen hinuntergelassen oder Anweisungen der Jäger an die anderen Helfer weitergegeben. Damals seien noch viele Bienen bei der Jagd gestorben, erinnert sich der 73-Jährige. Die Nester wurden samt Bienen einfach hinabgestoßen. Heute setzen die Honigjäger viel Rauch ein, um die Tiere von den Waben zu vertreiben. Das sei schonender.

Die Honigernte findet zweimal im Jahr statt: einmal im April und Mai, wenn die Bienen aus dem Tal ins Gebirge ziehen, und ein zweites Mal im Oktober und November, wenn die Völker im Winter nach Süden wandern. In diesem Jahr hat der Monsun, die Regenzeit in Nepal, länger als sonst gedauert. Die Bienen sind daher später gekommen und haben erst vor ein paar Wochen mit dem Nestbau begonnen. Die Waben sind noch jung und enthalten kaum Honig.

Nepals Honigjäger
Mit einem brennenden Bündel aus Farn und Gras räuchern die Honigjäger die Kliffhonigbienen von ihren bis zu einem Meter langen Waben. Doch die Nester sind erst wenige Wochen alt und enthalten keinen Honig. Fotos: Nils Heichen, Jürgen Graefe, Bernd Janthur

Honigjagd mit Folgen: Vorräte und Nachwuchs zerstört

Die Jäger sind sich dessen bewusst, welchen Schaden sie bei den Bienen mit der Ernte anrichten. Immerhin verlieren die Tiere dabei ihr Heim samt Vorräten und Nachwuchs. Vor jeder Jagd steht deshalb das Ritual. Darin bitten die Jäger die Götter um ihren Segen und um Entschuldigung, weil sie den Bienen etwas wegnehmen werden. Dafür geben sie im Austausch auch etwas zurück: eine Opfergabe, etwa einen Hahn, der dann geschlachtet wird.

An diesem Tag findet die Zeremonie auf einer großen Lichtung statt. Sie liegt knapp fünfhundert Meter vom Dorf Landruk entfernt, auf der Ostseite des Flusstals des Modi Khola. Hier treffen wir die Honigjäger. Unsere Reisegruppe hat den weiten Weg aus Deutschland in das kleine Land gemacht, um dessen Kultur und Imkerei kennenzulernen – vor allem aber um Nepals Honigjäger bei ihrer Ernte der riesigen Waben zu erleben. Anand Paudel, der gleichzeitig auch Priester ist, sitzt bereits am Feuer und bereitet das Ritual zur Ehrung der Götter vor. Statt einem Hahn werden heute nur ein paar Dutzend Eier geopfert. In der Pfanne bereitet Anand Paudel daraus Fladen zu. Ein Teil der Opferspeise geht an die Götter, der Rest wird unter den Anwesenden geteilt. Dazu gibt es den göttlichen Segen vom Priester als roten Punkt auf die Stirn. Ohne ihn findet keine Honigjagd statt.

Über zehn Männer des Gurungclans sind heute für die Jagd gekommen. Die meisten von ihnen sind mit den Vorbereitungen beschäftigt. Sie knüpfen Seile aus Bambusfasern, sammeln Farne und Gras als Brennmaterial und tragen die lange Strickleiter in den Fluss zum Wässern, damit die Seile wieder geschmeidig werden und später nicht Feuer fangen. Khadka Bahadur Mangar ist der Hauptjäger. Seit 21 Jahren steigt er die Klippen hinab. Allein und fernab der Gruppe läuft der 58-Jährige über den Platz, um sich gedanklich auf die kommende Jagd vorzubereiten.

Fast eine Stunde dauert das Ritual. Am Ende stellt Paudel den Teller mit den Opfergaben auf, zündet eine Kerze an und murmelt ein paar Worte. Er bittet die Götter um Verzeihung und Schutz, damit niemandem etwas passiert und die Jagd ein Erfolg wird. Anschließend bringen die Helfer die Leiter zur Spitze der Klippe herauf. Von hier werden die Jäger hinabsteigen. Während sie sich in Position bringen, begleiten uns ein paar der Gurung zu einer kleinen Lichtung auf der anderen Seite des Flusses, direkt gegenüber der riesigen Felswand, von wo wir das Schauspiel aus sicherer Entfernung beobachten können.

Kliffhonigbiene
Eine der Kliffhonigbienen sucht Schutz auf dem Hemd eines Reiseteilnehmers. Mit fast drei Zentimetern Länge sind sie die größten Honigbienen der Welt.

Nepals Honigjäger: Ein falscher Schritt bedeutet der sichere Tod

Mehr als 30 Nester hängen wie dunkle Tropfen von den Felswänden der Klippe herab. Bis zu einem Meter können die Waben lang werden. Für die heutige Ernte haben sich die Nepals Honigjäger drei eng zusammenstehende Nester direkt über einem Felsvorsprung ausgesucht. Zwei Helfer lassen von oben die Leiter hinab. Etwa Hundert Meter geht es in die Tiefe. Ein falscher Schritt, und die Honigjäger stürzen in den sicheren Tod. Barfuß und ohne Sicherung steigt Paudel als Erster auf die wackelige Leiter. Schritt für Schritt nähert er sich den riesigen Waben. Nervös zucken die Bienen auf. Mit ihren Körpern erzeugen sie eine Wellenbewegung – ein typisches Abwehrverhalten, das Feinde verwirren soll. Unbeirrt steigt der Honigjäger weiter herab. Aber die Leiter hängt zu weit links. „Zieht ihn rüber”, rufen die anderen Gurung von unten. Aber einer der Stricke hat sich am Felsen verhakt.

Die beiden Helfer weiter oben schaffen es nicht, die Leiter zu bewegen. Schließlich korrigiert Paudel selbst seine Position. Auf einer der Sprossen sitzend, stößt er sich mit seinen Füßen von der Felswand ab und schwingt Stück für Stück nach rechts. Nun kann er den Felsvorsprung erreichen, über dem die Beute hängt.

Honigjagd in Nepal
Ein Junge aus dem Dorf schaut bei den Vorbereitungen zu, während die Männer im Hintergrund aus Bambusfasern Seile für die Strickleiter knüpfen. Der Priester hat auch ihn für die kommende Jagd mit einem farbigen Punkt auf die Stirn gesegnet.

Als Nächstes steigt Khadka Bahadur Mangar, der Hauptjäger, hinab. An seinem Rücken hängen die langen Bambusstäbe, mit denen er die Waben vom Fels brechen wird. Als auch er sicher auf dem Vorsprung steht, lassen die Helfer ein brennendes Bündel aus Stroh und Farnwedeln an einem langen Seil hinunter zu den Jägern. Geschickt fängt Mangar es mit seinem langen Bambusstab ab und zieht es zu sich. Kaum hat er es in die richtige Position gebracht, beginnen die Bienen von den Waben zu strömen. Aber alle Nester sind leer.

Nepals Honigjäger müssen lange nach den Honigwaben suchen

Die Honigjäger diskutieren erst untereinander, schließlich zieht Paudel sein Handy hervor und ruft einen seiner Kollegen an, der mit unserer Gruppe unten am Flussufer steht. Von hier hat man einen besseren Überblick über die Lage der Waben an der Felswand. Schnell haben sie eine weitere Ansammlung von Nestern ausgemacht, die ein Stück weiter unten hängen. Darunter liegt jedoch kein Felsvorsprung, auf den die Jäger sich stellen könnten: Die Ernte muss von der Leiter aus erfolgen. Mangar setzt die Jagd daher alleine fort.

Langsam steigt er weiter herab. Kurz unter den Waben stoppt er und gibt das Zeichen, ein weiteres Bündel hinunterzulassen. Auf einer Sprosse sitzend, die Beine in der Luft baumelnd, fängt der Jäger die brennenden Zweige mit seiner langen Bambusstange ein und zieht sie unter die Nester. Und endlich: Eine große gelbbraune Wabe kommt zum Vorschein. Hier gibt es Honig zu ernten! Mit einer Stange bringt Mangar den Korb in Position, während er mit der anderen Stange die Wabe von der Felswand stößt. Nach wenigen Minuten stürzt das Nest herunter und landet sicher im Korb.

Es ist bereits Sonnenuntergang, als wir die Honigjäger mit ihrer Tagesbeute nahe unserer Unterkunft wiedertreffen. Der Korb ist voll mit Wabenstücken. Ein paar Bienen krabbeln verklebt und desorientiert darauf herum. Zögerlich probieren wir den Pollen und Honig. Beides schmeckt fruchtig und irgendwie anders, als wir es von unserer Westlichen Honigbiene Apis mellifera gewohnt sind. Anand Paudel tritt zu uns an den Korb. Das Beste hätten wir ja noch gar nicht probiert. Grinsend stopft er sich ein riesiges Stück Wabe mit verdeckelter Brut in den Mund. Für einen Gurung, der sich 365 Tage im Jahr hauptsächlich von Reis, Linsen und Gemüse ernährt, sind die Larven der Kliffhonigbiene eine Delikatesse.

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Nepals Honigjäger: Jeden Morgen ein Löffel Honig

Khadka Bahadur Mangar ist der Held des Tages. Fast fünf Stunden hing er auf der Leiter, wirkt dafür aber kein bisschen erschöpft. Das komme vom Honig, scherzt der Jäger. Jeden Morgen nehmen die Gurung einen Löffel davon – das gebe Kraft für den Tag, sagt er. Dank der vielen Medienberichte und Dokumentationen sind die Honigjäger und ihre spektakuläre Ernte mittlerweile auch im Westen bekannt. Touristen kämen aber immer noch selten hierher, um bei der Jagd zuzuschauen, erzählen die beiden Jäger.

Der Honig hingegen sei bei ihnen sehr begehrt; ein Kilogramm verkaufe sich für 4.000 bis 5.000 Nepalesische Rupien – das sind umgerechnet etwa 30 bis 40 Euro. In Nepal ist das ein halber Monatslohn. Früher hätte es aber mehr Honig in den Nestern gegeben, sagt Mangar. Heute würden die Bienen nicht mehr so viel sammeln. Durch die stetig wachsende Bevölkerung und Zivilisation sei die Vegetation der Bergregionen in den letzten zehn Jahren zurückgegangen.

Lohnt sich die Jagd trotzdem, auch wenn die Honigjäger bei jedem Abstieg ihr Leben riskieren? Mangar sieht das gelassen. Es sei alles eine Frage der Übung. Als er ein kleiner Junge war, sei er nicht einmal schwindelfrei gewesen. Aber Schritt für Schritt habe er sich daran gewöhnt. Heute bereite ihm der Abstieg keine Probleme mehr. Und die Stiche? „Ich wurde nicht gestochen“, versichert er uns. „Wer die Jagd richtig beherrscht, hat den Segen der Götter.“

Saskia Schneider

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